Immer mehr Kinder und Jugendliche benötigen eine Psychotherapie

Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen in Brandenburg, die eine Psychotherapie in Anspruch nehmen, hat sich innerhalb von zehn Jahren mehr als verdoppelt. Das geht aus dem Arztreport der Barmer hervor. Demnach stieg die Anzahl von Kindern und Jugendlichen in psychotherapeutischer Behandlung von 7.100 im Jahr 2009 auf knapp 19.000 im Jahr 2019. Das entspricht einem Anteil von rund 3,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Brandenburg. „Neben einem schnellen Zugang zu therapeutischen Behandlungen benötigen junge Menschen langfristig mehr Schutz vor psychischen Belastungen sowie niedrigschwellige Beratungsangebote in Krisensituationen. Dies gilt ganz besonders in der Pandemie“, sagt Gabriela Leyh, Landesgeschäftsführerin der Barmer Berlin/Brandenburg.

Die am häufigsten gestellte Diagnose für eine Psychotherapie, „Reaktion auf schwere Belastungen oder Anpassungsstörung“, deutet darauf hin, dass außergewöhnlich belastende Lebensereignisse für Kinder und Jugendliche stark zugenommen haben. Die Barmer vermutet, dass gerade bei Jugendlichen Cybermobbing eine zentrale Rolle spielen könnte. „Mobbing kann sich in unterschiedlichen sozialen Umfeldern wie Freundeskreis, Schule, Arbeitsplatz oder im Internet ereignen. Laut der Sinus-Jugendstudie 2020, die die Barmer mit herausgebracht hat, haben etwa 20 Prozent der 14- bis 17-Jährigen in Deutschland schon Erfahrungen mit Cybermobbing gemacht“, sagt Leyh. Auch depressive Erkrankungen und Angststörungen waren in den vergangenen Jahren weitere häufige Gründe für Psychotherapien bei Kindern und Jugendlichen. Hinzu kommen nun die psychischen Belastungen der Corona-Pandemie.

„Gerade jetzt sind Kinder und Jugendliche stark psychisch belastet, wie eine aktuelle Umfrage der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer belegt. 80 Prozent unserer an der Umfrage teilnehmenden Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten bestätigen, dass im zweiten Lockdown die Anfragen von hilfesuchenden Familien sowie Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbst in den Praxen deutlich gestiegen sind, dabei ist eine Zunahme aller Krankheitsbilder festzustellen: Angsterkrankungen, Depressionen, aber auch Essstörungen, Medienabhängigkeit und Suchtmittelmissbrauch.“, sagt Anne Fallis, niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Potsdam. „Unsere Behandlungskapazitäten für Neupatienten sind jedoch stark begrenzt, weil ein Großteil der Kinder und Jugendlichen, die schon Patienten waren, sich wieder in Not befinden und in die Praxen zurückkehren“. Gerade die Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen ist besonders von den Lockdown-Regelungen betroffen.

„Jugendliche sollten sich eigentlich von ihren Eltern ablösen. Der Austausch in der Peergruppe, erste Liebesbeziehungen, sich auszuprobieren im sozialen Raum, wären jetzt entscheidende Entwicklungsschritte, die sie aber nicht gehen können. Stattdessen bleiben sie in der altersgemäß konflikthaften Situation mit den Eltern gebunden. Die unsichere Lage auf dem Ausbildungsmarkt verstärkt die Angst und Zukunftssorgen bis hin zu psychischen Erkrankungen“, weiß Anne Fallis um die prekäre Situation der Jugendlichen. Bei jüngeren Kindern lägen die Probleme anders: „Die Schulprobleme haben sich durch Corona verstärkt. Ich habe Patienten, die fünf Monate nicht in der Schule waren. Es drängt sich die Frage auf, wie diese Kinder wieder in einen normalen Schulablauf finden sollen und welche Willkommenskultur Schulen für Kinder und Jugendliche etablieren werden.“, so Anne Fallis abschließend.

Die Möglichkeiten, in Brandenburg Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen zu behandeln, haben sich in den vergangenen Jahren verbessert. So ist die Anzahl der niedergelassenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten von 59 Kinder im Jahr 2013 auf heute 140 gestiegen. Seit der Reform der Psychotherapie-Richtlinie im Jahr 2017 bieten Therapeuten außerdem zusätzlich zu den klassischen Psychotherapien auch Psychotherapeutische Sprechstunden und Akuttherapien an. Diese dienen einer frühzeitigen Abklärung, ob und welche psychotherapeutische Behandlung notwendig ist. „Wir begrüßen die neue Möglichkeit der Sprechstunden in den Psychotherapiepraxen. Zugleich muss das Land stärker in die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen investieren, zum Beispiel durch die Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes oder die Einstellung von Schulpsychologen. Gesundheitskompetenz, der Umgang mit Stress und Mobbing sollte im Unterricht fest verankert werden,“ fordert Leyh.

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