Mit sich selbst sorgsam sein

Viele Menschen empfinden in der Pandemie mehr Ängste als sonst. Vor allem die Angst, sich mit dem Corona-Virus anzustecken, sorgt für Unsicherheiten. Obwohl es bei vielen Erkrankungen entscheidend ist, eine rasche Therapie einzuleiten, scheuen sie sich davor, dringende Untersuchungs- und Behandlungstermine im Krankenhaus wahrzunehmen. Gerlind Radermacher, Psychologin im Helios Klinikum Bad Saarow, weiß, wie man mit Ängsten und Unsicherheiten umgehen kann.

Frau Radermacher, warum löst die Pandemie bei manchen Menschen Ängste aus?
Ängste und Unsicherheiten sind normale menschliche Reaktionen auf eine außergewöhnliche und nicht normale Situation. Auch außerhalb der Pandemie begleiten sie uns, wir spüren sie momentan nur mehr. Erich Kästner sagte dazu: „Seien wir ehrlich, Leben ist immer lebensgefährlich“. Diese Unsicherheit des Lebens ist uns in der aktuellen Zeit bewusster geworden. Viele Dinge, die bisher für uns selbstverständlich erschienen, können wir gegenwärtig weniger kontrollieren oder gar nicht beeinflussen.

Wovor ängstigen sich die Menschen am meisten?
Angst kann sich ganz verschieden auswirken. Die einen haben Angst, sich anzustecken, andere fürchten sich vor den Lockerungen. Viele sorgen sich wegen finanzieller Probleme, um ihre Sicherheit und Existenz, oder fühlen sich allein und einsam. Aber auch die aktuellen Schutzmaßnahmen im Krankenhaus, wie Besuchsverbote oder Isolationen, können Ängste auslösen. Andere Patienten haben Angst, die eigene Therapie könne durch die Pandemie beeinträchtigt werden.

Was kann man selbst gegen seine Angst tun?
Erst einmal ist es wichtig, sich die belastenden Gefühle und Gedanken einzugestehen, sie sich selbst zu erlauben… „So fühle ich mich im Moment“. Lassen Sie Ihre Gefühle zu und verurteilen Sie sich nicht dafür. Sie sind natürlich und verständlich. Sie geben uns einen Hinweis darauf, was wir gerade brauchen. Wenn es mit unseren Gefühlen momentan drunter und drüber geht, ist es wichtig, darüber zu sprechen. Das zeigen auch Redewendungen aus unserer Alltagssprache wie „sich etwas von der Seele reden“ oder „etwas loswerden“.

Wie wichtig ist das Reden?
Reden allein löst keine Probleme, aber es entlastet, bringt uns auf andere Gedanken, hilft uns, Gedanken zu sortieren und lässt uns oft wieder Hoffnung schöpfen. Reden hilft, Abstand zu den Sorgen zu gewinnen. Es fühlt sich immer gleich ein bisschen besser an, wenn man Ängste ausspricht.

Übrigens: Es muss nicht immer ein Gespräch mit Familienangehörigen oder Freunden sein. Freunde und Familie sind wichtig, aber manchmal tut es auch gut, mit jemanden zu sprechen, der außen steht, seien es Ärzte, Psychologen, Pflegekräfte oder Seelsorger. So kann ein Netzwerk an Unterstützung entstehen. Sprechen Sie offen mit vertrauten Menschen über Ihre Ängste. Es hilft, seine Sorgen mit anderen Menschen zu teilen.

Wie kann man mit sich selbst sorgsam sein? 
Ängste können unser Leben extrem belasten und sogar bestimmen. Deshalb ist es wesentlich, sich auf sich selbst zurückzubesinnen. Wir können uns fragen, was uns guttut und was uns stärkt. Angst ist kein guter Begleiter. Es ist wichtig, dass wir uns nicht von ihr leiten lassen, sondern uns um uns selbst kümmern, für uns sorgen, uns mit Freundlichkeit begegnen.

Aber auch die beste Selbstfürsorge kann Stress nicht vollständig verhindern, sie hilft uns jedoch, mit Schwierigkeiten besser fertig zu werden. Wenn wir verunsichert sind, ist es ganz normal, dass wir mehr Sicherheit, Struktur und Kontrolle suchen, wie bspw. sinnvolle Hygienemaßnahmen, Gespräche mit Mitmenschen, die Suche nach Unterstützung, eine haltgebende Tagesstruktur oder Ablenkung. Mit sich selbst und seiner Gesundheit sorgsam sein, heißt auch, wichtige ärztliche Untersuchungen und Behandlungen nicht aufzuschieben.

Was kann gegen Angst noch helfen?
Wenn der Körper unter Stress steht, tut vor allem Bewegung gut. Denn Angst lässt uns erstarren und verkrampfen. Sind wir gestresst, verlieren wir leicht den Zugang zu unseren eigenen Ressourcen. Ein Spaziergang im Wald baut Spannungen ab, er lüftet den Kopf durch und hilft abzuschalten. Aber auch zu Hause ist Bewegung möglich: Yoga, zur Lieblingsmusik tanzen oder Dehnübungen sind Dinge, die Spaß machen. Gehen Sie an die frische Luft, denn regelmäßige Bewegung im Alltag trägt besonders zum körperlichen und seelischen Wohlbefinden bei.

Als Psychoonkologin sind Sie im Onkologischen Zentrum tätig. Welche Erfahrungen haben Sie während der Corona-Zeit mit Tumorpatienten gemacht?
Zuerst die gute Nachricht: Die allermeisten unserer Tumorpatienten, deren Therapie bereits vor der Pandemie begonnen hat, haben ihre Behandlung fortgesetzt. Da das entscheidend für den Therapieerfolg ist, freut uns das natürlich sehr. Eine Helios-Studie belegt aber auch, dass bei fast allen Krebsarten ein Rückgang der Fallzahlen während des Lockdowns im Frühjahr und Frühsommer 2020 zu verzeichnen ist. Vor allem bei über 75-Jährigen wurden durchschnittlich 20 Prozent weniger Behandlungen durchgeführt. Dieser Fakt ist sehr besorgniserregend, weil gerade bei Krebs zeitnah eingeleitete Untersuchungen und Behandlungen entscheidend für den Behandlungserfolg sind. Die genauen Gründe für den Rückgang werden erst noch anhand weiterer Erhebungen analysiert. Wahrscheinlich ist, dass viele Betroffene gerade mit einer Erstdiagnose aus Angst vor Ansteckung mit dem Corona-Virus Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte gemieden haben.

Wie können Patienten mit Angst aufgefangen werden?
Wir nehmen die Ängste natürlich sehr ernst. In unserem Klinikum arbeiten wir mit umfassenden Sicherheits- und Hygienemaßnahmen, die unsere Patienten und auch uns schützen. Diese Regelungen, die für ein sicheres Miteinander sorgen, fordern uns in unserer psychologischen Arbeit aber auch heraus. Aufgrund der aktuellen Besuchsregelungen, für die unsere Patientinnen und Patienten viel Verständnis zeigen, haben sie natürlich einen größeren Gesprächsbedarf. Das ist absolut nachvollziehbar und unser ganzes Team, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ärzteschaft, der Pflege, der Therapie und des Service sind bemüht, unseren Patienten so viel wie möglich Sicherheit zu geben.

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