Mein Oller strahlt. Eigentlich nichts Besonderes, wäre es nicht beim Frühstück, in aller Herrgottsfrühe, gegen halb Neun und während der Zeitungslektüre.

„Weihnachten ist ja nun gerettet!“, nuschelt er kauend und schmatzend. Und strahlt über das ganze Gesicht. Und ich, obwohl ich im gleichen Wurstblatt gelesen habe, weiß nicht, worauf er hinauswill. „Das Zauberwort“, erklärt er mir, „lautet: Demonstration!“

„Biste nu auch unter die Querköppe gegangen?“, rutscht es mir raus.

Er lächelt mich nachsichtig an: „Verstehendes Lesen.“

Ich verstehe gar nichts. Er schiebt mir die Zeitung rüber und legt seinen Zeigefinger, immer noch milde lächelnd, auf einen Artikel. Über die Großdemo in Leipzig. Langsam dämmert es mir.

„Du meinst, wir feiern Familienweihnachten mit allen, die auch sonst gekommen sind und melden das als…“ „…Demo an!“, bringt er meinen Satz zu Ende, „So geht Rechtsstaat!“

Der Gedanke gefällt mir. Nicht, dass ich den zuweilen kruden Gedanken meines Ollen immer so aufgeschlossen gegenüberstehe, aber diesmal bin ich richtig stolz auf ihn. Das ist doch mal eine geradezu salomonische Idee. Ich überlege kurz, ob man sich die rasch noch patentieren lassen könnte.

„Wenn die Weihnachtsmärkte in ‚Weihnachtsdemonstrationen‘ umbenannt würden, stünde diesen Veranstaltungen doch nichts im Wege, wie es die Rechtsprechung des sächsischen Oberverwaltungsgerichts zeigt. Kaum vorstellbar, dass auf einem Weihnachtsmarkt irgendein Polizist gewaltsam dagegen einschreitet, wenn mal Abstand oder Maske nicht stimmen.

Auch Kinos und Theater könnten ‚Kulturdemos‘ machen, in den Restaurants und Kneipen könnten wieder Leute friedlich und zufrieden Demonstrationen für, sagen wir mal ‚ungetrübten Genuss‘ stattfinden lassen“, spinne ich den Faden weiter.

„Und Oma dürfen wir wieder im Pflegeheim besuchen“, ergänzt mein Oller, „das nennen wir dann ‚Demonstration für Menschlichkeit und Solidarität‘, mit diesen Schlagworten kommst du überall durch.“ Ein bisschen erinnert mich das an früher: Gib dem Kind den richtigen Namen, und selbst die Bezirksparteileitung unterstützt dich… 

Und wie immer, wenn mir solche Vergleiche zu „früher“ einfallen, werde ich stutzig. Zu demonstrieren ist ein verbrieftes Recht. Wie aber steht es mit der Selbstbestimmung? Da bestehen offenbar unterschiedliche Ansichten: Wenn Oma gerne möchte, dass sie nicht ohne Besuch ihrer Lieben sein will, wird ihr das verwehrt. Weil sie eine „gefährdete Person“ ist, die man schützen muss. Auch gegen ihren Willen, wenn’s sein muss. Weil sie es womöglich gar nicht einschätzen kann, wie groß die Gefahr für sie ist. Weil alte Leute per se doof sind? Ich glaub das nicht.

Brettert aber jemand mit 230 Sachen über die Autobahn, vorbei an Leuten, die rund hundert Klamotten langsamer unterwegs sind, also immer noch ganz schön zügig, darf der das. Obwohl es berechtigte Zweifel geben dürfte, dass der „Überflieger“ sich bewusst ist, eine „gefährdete Person“ zu sein. Übrigens die anderen, denen er begegnet, dank seiner Fahrweise auch.

Sag mir nun keiner, ich vergliche Äpfel mit Birnen! Nein, ich vergleiche Gesundheit mit Gesundheit, Leben mit Leben, Sterben mit Sterben. Bloß, dass Omas keine Lobby haben.

Doch zurück zur Weihnachtsdemonstration. Interessant wäre es, zu erfahren, wie viele der Leipziger Demonstranten (und Demonstrantinnen) sich hinterher einen Virus eingefangen haben. Schon nach den Berliner Protestveranstaltungen hörte man nicht von solchen Fällen. Drängt sich eine weitere Frage auf: Meidet das Corona-Teilchen eventuell solche Aufmärsche? Oder macht es ihm schlichtweg keinen Spaß, sich auf ungeschützte Leute zu stürzen? Natürlich ist die Herausforderung für so einen infektiösen Eindringling viel größer, sich über einen Gesundheitsminister herzumachen. Also jemanden zu befallen, der sich aller Wahrscheinlichkeit nach penibel an alle Abstands- und Hygieneregeln hält. Schon von Amts wegen. Wer steckt schon drin, in solchem Virus.

Sicher scheint aber zu sein, dass eine solide und von Herzen kommende Weihnachtsdemo mehr Freude als Leid über die Christenheit bringen kann. Mit ordentlich Glühwein zur Desinfektion.
Und mit Oma.

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